Reden

Bei der Gedenkfeier am 5. April 2012 sprach Martina Renner, MdL in Thüringen und Mitglied der Fraktion „Die Linken“.

In ihrer Funktion als Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Neonazi-Verbrechen in Thüringen beschäftigt sie sich mit dem Hintergrund der rassistischen Gewalttaten.

Hier der Text ihrer engagierten Rede:

 

Sehr geehrte Anwesende, liebe Kollegen und Kolleginnen, liebe Kameradinnen und Kameraden,

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Alle, die sich wie Ihre Initiative um ein würdiges Gedenken aber auch um die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen bemühen, stehen vor einer großen Herausforderung. Die Zeitzeugen verlassen uns. Wer soll nun in die Schulklassen gehen, wer pflegt das Andenken, wer kann Emotionen wecken und berühren?

 Eine Antwort ist ein Projekt, das an der Gedenkstätte Neuengamme entwickelt wurde. Die "Zeugen der Zeugen“ ist der Name. Jugendliche und junge Erwachsene begleiten Überlebende über viele Wochen. Ein junger Mensch trägt die Verantwortung für die Weitergabe der Biographie eines Zeitzeugen. Nach und nach übernimmt der Zeuge des Zeugen unter Anwesenheit des Überlebenden die Vermittlung dessen Lebensgeschichte, nach und nach findet er sich in dessen Biographie ein, eine Biographie die dem jungen Menschen sehr nahe kommt, denn viele der damaligen Häftlinge waren ja selbst Jugendliche, und das schafft Nähe und Vertrauen. Die jungen Menschen nehmen die Perspektive der Opfer ein und werden Mittler.

 

Die Perspektive der Opfer, das ist das, was uns oft fehlt. Diese Erkenntnis haben viele antifaschistisch Engagierte die letzten Monate mit Bitternis feststellen müssen.

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Neben dem riesenhaften Versagen des Staates bei der Einordnung, Verfolgung und einer frühzeitigen Verhinderung des NSU-Terrors, steht die Scham der Zivilgesellschaft. Warum haben wir die Hilferufe der Angehörigen, der Migranten-Community nicht gehört? Warum haben wir nicht jedes Mal einen Leserbrief geschrieben, wenn von „Dönermorden“ die Rede war? Warum haben wir uns nicht empört, als Roma und Sinti für den Mord an der Polizistin in Heilbronn verantwortlich gemacht werden sollten? Die Polizei erklärte zum Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter 2007 öffentlich, man suche die Täter im „Zigeunermilieu“. Ausreichend für diese rassistische Verdächtigung war der Umstand, dass Roma-Familien in der Region ihr Lager aufgeschlagen hatten und ein Busverkehr nach Rumänien auch Heilbronn anfuhr. Wer hat sich eigentlich damals außer dem Zentralrat der Sinti und Roma über diese rassistische Verdächtigung empört? Wo war unsere Solidarität? Ich möchte uns nicht pessimistisch stimmen, aber nachdenklich. (...)

Gestern wie heute sind Theorien der Ungleichheit der Menschen in diesem Land  mehrheitsfähig. Das hat nichts mit Ost und West zu tun, so wie hüben dem Antisemitismus eher zugesprochen wird, ist es drüben der Rassismus. Das hat nicht allein mit Bildungsstand zu tun, wer schon mal auf einer Sarrazin-Lesung war, wird sich umzingelt fühlen von Akademikern und bürgerlich Situierten. Das hat auch nichts mit dem Geschlecht zu tun. Frauen neigen sogar noch stärker zu rassistischen Vorurteilen als Männer. Die Vorstellung, die Menschen sind qua Geburt, qua Herkunft ungleich, ist dominant. Jeder, der dagegen argumentiert, ist Sozialromantiker, sagt das Feuilleton, Inländerfeind sagt die NPD. Das ist der Resonanzboden des Naziterrors, nicht im Sinne eines simplen Basis-Überbau-Modells, sondern als Bezugsrahmen der Neonazis. Diese wähnen sich tatsächlich als Vollstrecker eines vermeintlich breit gefühlten Volkswillens.

(...)

 

In den Erinnerungen des Überlebenden Jakob Gutman, die Sie als Initiative veröffentlicht haben, heißt es: „Mit Lügen und Gewalt haben die Nazis ihre Pläne zur methodischen Vernichtung der europäischen Juden durchzusetzen versucht.“ Diese beiden Seiten des Faschismus müssen wir weiter thematisieren. Die Lügen und die Gewalt. Der Kampf gegen die neuen Nazis kann nur gelingen, wenn langfristig rassistische und rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung abgebaut werden. Den Lügen treten wir mit Aufklärung gegenüber, die Gewalt erfährt unseren Widerstand. Wir müssen klar sagen: in einem Land, in dem Menschen Angst haben müssen, allein auf Grund ihrer Herkunft Opfer einer neonazistischen Gewalttat zu werden, in so einem Land wollen wir nicht leben. Statt deutscher Interessen am Hindukusch müssen wir die Demokratie in Schwäbisch-Hall und Erfurt verteidigen. Unsere Bezugspunkte sind ein konfessions- und weltanschaulich übergreifender Antifaschismus, die Grund- und Bürgerrechte für alle Menschen in diesem Land, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit statt Spaltung und Diskriminierung. Wir sind nicht von gestern, auch wenn das uns Neoliberale, Zyniker und Neue Rechte glauben machen wollen. Sondern wir schauen nach dem morgen und übermorgen in einem demokratischen Europa, das die Lehren aus dem Faschismus gezogen hat. Uns können mordende Neonazis in Norwegen so wenig egal sein wie Schwarzhemden in Ungarn.

Viele von Ihnen sind gewerkschaftlich aktiv, sie haben schon lange erkannt, dass die Verteidigung der Arbeitnehmerrechte und die Erkämpfung von sozialen Standards in den transnationalen Konzernen unter den Bedingungen der Globalisierung nur erfolgreich ist, wenn wir uns wenigstens europaweit vernetzen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Neonazismus ist es ähnlich. Dafür kann die Erinnerungsarbeit wichtiger Impuls sein. Sie war schon immer international. Jedes Jahr wehen die Fahnen aus den Herkunftsländern der Verfolgten in der Gedenkstätte Buchenwald am Tag der Befreiung.

Wir stehen vor vielen Herausforderungen. Was wir brauchen ist die lebendige  Zeugenschaft des Nationalsozialismus. Die Bereitschaft von Schulen und Bildungseinrichtungen, das Thema Nazismus nicht allein im Geschichtsunterricht zu behandeln, sondern in einer demokratischen Schule interkulturelles und interreligiöses Lernen und Leben fest zu verankern. Wir sollten den Opfern rechter Gewalt nicht nur Gehör schenken, sondern ihnen beiseite stehen in juristischen, psychologischen, sozialen Fragen. Der Berliner Tagesspiegel führt eine Chronik der Todesopfer rechter Gewalt, die weit mehr Morde auflistet, als die offiziellen Polizeistatistiken. Für Baden-Württemberg sind für die Jahre 1990-2011 acht Morde vermerkt, nur drei davon wurden offiziell als rechtsextreme Tat anerkannt. Eine Aufgabe ist es jetzt, Druck auf die Behörden und Politik zu machen, die rassistischen/neonazistischen Hintergründe der Taten endlich anzuerkennen. In Sachsen gibt es erste Erfolge. Zu einer Tat hat Polizei und Justiz ihre Einschätzung, dass ein politischer Hintergrund fehlte, nun revidiert. Weitere Überprüfungen sind von der dortigen Staatsregierung angekündigt.

Wir brauchen diese Diskussion in jedem Bundesland und Menschen, die bereit sind diese zu führen. Es gilt jeder Verharmlosung, Relativierung oder Beschönigung des Nationalsozialismus UND der neuen Nazis entgegenzutreten. Gestern wie heute gilt. faschistische Ideologie und Praxis sind mit Nichts gleichzusetzen oder zu vergleichen. Dem Rechts-Links-Gewäsch einer unwissenschaftlichen und ahistorischen Extremismusdoktrin müssen wir entschieden widersprechen. Wir brauchen praktische politische Schritte in Bund und Land um Neonazis jede Form von staatlicher Unterstützung zu entziehen, angefangen bei einem NPD-Verbot, aber dieses nicht allein, sondern auch Verbot aller militanten Organisationen und Stop von Fördermitteln wie Existenzgründerdarlehen, Mittel aus Denkmalschutzbehörden etc. an Neonazis.

Wir brauchen eine menschenrechtsorientierte Polizei, die gegen. Rassismus in den eigenen Reihen vorgeht und Ermittlungsarbeit ohne gruppenbezogene Vorurteile ausübt. Wir müssen über die Existenzberechtigung eines Geheimdienstes in einer Demokratie nachdenken und die Verantwortung für das Versagen des Staates bei dem Entstehen und Wirken des Naziterrors klären. Antifaschismus ist kein historisch abgeschlossenes Projekt. Wir übergeben den Staffelstab von der Generation der Zeitzeugen über unsere Generation, die sich mit den Verbrechen der Väter und Großväter beschäftigen musste, zu einer neuen Generation, die überall in Deutschland auf der Straße sitzt, wenn Neonazis aufmarschieren.

Somit wird uns nicht bange: „Nie wieder Faschismus“ ist keine Floskel, keine  Vergangenheit, sondern Prüfstein der Demokratie in Europa.